JAHRESKREIS


 


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       KAIN UND ABEL 2.0

       Es lebten mal vor ungefähr
       fünftausend Jahren oder mehr,
       so steht’s geschrieben simultan
       in Tanach, Bibel und Koran,
       egal ob wirklich oder Fabel,
       die beiden Brüder Kain und Abel.

       Das Wenige, was wir erfahren
       ist, dass sie sehr verschieden waren.
       Sesshaft geworden hat bestellt
       der Kain den Acker und das Feld,
       es ließ der andere der beiden,
       der Abel, seine Schafe weiden.

       Ein friedlich Bild ist das, gewiss.
       Doch weiß man aus der Genesis,
       was so idyllisch hier aussieht
       führte zum ersten Homizid
       und galt seit jener Zeit hinfort
       als Synonym für Brudermord.

       Kain glaubte, stets zu kurz zu kommen
       und fühlte sich nicht ernst genommen.
       Missmutig musste er oft sehen,
       wie alles von der Hand zu gehen
       schien leicht und mühelos derweil
       beim anderen Geschwisterteil.

 

       Nach außen mimte er das Lamm
       doch düster war sein Psychogramm.
       Verdeckt fing er an auszusinnen
       'wie greif ich an, um zu gewinnen
       und dass danach die ganze Welt
       den dann für den Aggressor hält‘.

       Als überhandnahm Hass und Grimm
       wurd es in seiner Seele schlimm,
       durch sein Gemüt fraß sich der Neid
       und Kain nahm voll Kaltblütigkeit
       vom Boden einen großen Stein
       und schlug auf Abels Schädel ein.


       Gott aber sah, was Kain im Wahn
       hat seinem Bruder angetan.
       Er stellte ihn, doch Kain voll List
       sprach: "der nahm Drogen, war Faschist,
       war durch und durch korrupt und schlecht
       daher war meine Tat gerecht!“

 

       Gott sprach: "führst Menschen hinters Licht,
       doch deinen Gott, den täuschst du nicht.
       Du hast gemordet und gelogen
       und wirst zur Rechenschaft gezogen.
       Da Abels Blut zum Himmel schreit
       bist du verflucht für alle Zeit!“

 

       Dass wieder Bruderkrieg ist heut,
       zeigt, dass selbst nach so langer Zeit
       aus der die Bluttat wird beschrieben,
       der Mensch auf dem Stand ist geblieben.

 

       ©2022 Hans-Gunther Hoche

 




DAS MIT DEM FRIEDEN

‚Es kann‘, so lässt es sich beschreiben,
‚der Frömmste nicht in Frieden bleiben
wenn’s bösen Nachbarn nicht gefällt,‘
und das egal wo in der Welt.
Im nahen Weiler, das ist trist,
gibt’s leider immer wieder Zwist.
Man grüßt nicht, geifert, schimpft und droht,
erteilt dem andern Hausverbot,
und das in einer Wohnstruktur
von grade mal vier Häusern nur.

Der Zwist in ihrer Mikrowelt
dieselben Menschen nicht abhält
zu reagieren höchst empört,
weil in der großen Welt gestört
der Frieden wird, weil ein Despot
brutal ein Nachbarland bedroht.
Doch Frieden nur auf Lippen tragen,
statt ihn im eignen Kreis zu wagen?
Welch‘ Wort lässt sich da besser schmieden
als träger Zeigefinger-Frieden?

Es ist gemäß Immanuel Kant
der Frieden kein Naturzustand,
weshalb er überall auf Erden
muss stets aufs neu gestiftet werden.
Und weiter ist bei Kant zu lesen,
Konflikt sei in des Menschen Wesen
von Anbeginne angelegt.
Schon in der frühsten Kindheit regt
sich Konkurrenzgefühl und Neid
und führt zu Zwistigkeit und Streit.


Vom Krieg erreicht uns täglich Kunde
und Frieden ist in aller Munde.
Doch dessen Deutung kann nicht sein 
Abwesenheit von Krieg allein.
Spinoza schrieb vor langer Zeit,
der Friede sei Gerechtigkeit,
sei eine Tugend, sei Vertrauen,
sei nur auf Güte aufzubauen.
Das ist’s, was Frieden uns erhält,
im Dorf wie in der weiten Welt.

 

©2022 Hans-Gunther Hoche



 

Wesen der Wahrheit
aus Chinesische Legenden von Hermann Hesse


Als ihm zu Ohren kam, dass neuerdings die jungen Künstler sich darin übten, auf dem Kopfe zu stehen, um eine neue Weise des Sehens zu erproben, unterzog Meng Hsiä sich sofort ebenfalls dieser Übung, und nachdem er es eine Weile damit probiert hatte, sagte er zu seinen Schülern:
"Neu und schöner blickt die Welt mir ins Auge, wenn ich mich auf den Kopf stelle."
Dies sprach sich herum, und die Neuerer unter den jungen Künstlern rühmten sich dieser Bestätigung ihrer Versuche durch den alten Meister nicht wenig. Da dieser als recht wortkarg bekannt war und seine Jünger mehr durch sein bloßes Dasein und Beispiel erzog als durch Lehren, wurde jeder seiner Aussprüche beachtet und weiter verbreitet. Und nun wurde, bald nachdem jene Worte die Neuerer entzückt, viele Alte aber befremdet, ja erzürnt hatten, schon wieder ein Ausspruch von ihm bekannt. Er habe, so erzählte man, sich neuestens so geäußert:
"Wie gut, dass der Mensch zwei Beine hat! Das Stehen auf dem Kopf ist der Gesundheit nicht zuträglich, und wenn der auf dem Kopf Stehende sich wieder aufrichtet, dann blickt ihm, dem auf den Füßen Stehenden, die Welt doppelt schön ins Auge."
An diesen Worten des Meisters nahmen sowohl die jungen Kopfsteher, die sich von ihm verraten oder verspottet fühlten, wie auch die Mandarine großen Anstoß.
"Heute", so sagten die Mandarine, "behauptet Meng Hsiä dies und morgen das Gegenteil. Es kann aber unmöglich zwei Wahrheiten geben. Wer mag den unklug gewordenen Alten da noch ernst nehmen?"
Dem Meister wurde hinterbracht, wie die Neuerer und wie die Mandarine über ihn redeten. Er lachte nur. Und da die Seinen ihn um eine Erklärung baten, sagte er:
"Es gibt die Wirklichkeit, Ihr Knaben, und an der ist nicht zu rütteln. Wahrheiten aber, nämlich in Worten ausgedrückte Meinungen über das Wirkliche, gibt es unzählige, und jede ist ebenso richtig, wie sie falsch ist."
Zu weiteren Erklärungen konnten ihn die Schüler, so sehr sie sich bemühten, nicht bewegen.